Tag 54: Schuldgefühle bei pflegenden Angehörigen von Menschen mit Demenz
- leyroutz
- 19. März
- 4 Min. Lesezeit
Gerade eben habe ich mit meinen Kolleginnen der Selbsthilfegruppe unser monatliches Zoom-Meeting beendet. Heute in Gruppe waren Schuldgefühle ein zentrales Thema welches natürlich dort auch behandelt wurde.
Ich habe den Teilnehmerinnen aber versprochen heute über dieses Thema im Blog zu schreiben.
Es war nach einer intensiven Familienberatung, als mir Frau Blume unter Tränen gestand: "Manchmal wünsche ich mir, dass es endlich vorbei ist. Und dann hasse ich mich sofort für diesen Gedanken." Ihr Mann leidet seit sieben Jahren an einer fortschreitenden Demenz. Was Frau Blume erlebt, begegnet mir in meiner Praxis täglich: Die erdrückende Last der Schuldgefühle, die pflegende Angehörige wie ein Schatten begleitet.
Die unsichtbare Bürde
Schuldgefühle gehören zu den belastendsten emotionalen Erfahrungen pflegender Angehöriger. Sie entstehen in verschiedensten Situationen und aus unterschiedlichsten Gründen:
Wenn Ungeduld oder Frustration aufkommen ("Wie oft soll ich es noch erklären?")
Bei dem Gedanken, nicht genug zu tun oder nicht präsent genug zu sein
Wenn eigene Bedürfnisse wahrgenommen werden ("Ich gönne mir einen freien Nachmittag, während er allein ist")
Bei Überlegungen zur Heimunterbringung
Wenn negative Gefühle wie Wut oder sogar Hass auftreten
Diese Schuldgefühle werden durch gesellschaftliche Erwartungen verstärkt. "In guten wie in schlechten Zeiten", "Familie hält zusammen", "Eine gute Tochter würde nie..." - solche internalisierten Glaubenssätze werden zu unbarmherzigen inneren Richtern.
Warum Schuldgefühle besonders bei Demenz so stark sind
Die Demenzerkrankung eines nahestehenden Menschen stellt eine besondere emotionale Herausforderung dar. Anders als bei vielen anderen Erkrankungen verlieren wir den Menschen Stück für Stück, während er körperlich noch anwesend ist. Dieser "partielle Verlust" macht es besonders schwer, zu trauern und abzuschließen.
Ein entscheidender Punkt: Bei Demenz verändern sich Beziehungsdynamiken grundlegend. Die Mutter, die immer stark war, braucht nun Hilfe beim Anziehen. Der Ehemann, mit dem man tiefgründige Gespräche führte, erkennt einen nicht mehr. Diese Rollenumkehr verstärkt Gefühle von Trauer und Schuld.
Hinzu kommt das herausfordernde Verhalten, das mit Demenz einhergehen kann: Aggressionsausbrüche, Anschuldigungen, Wahnvorstellungen. Wenn der geliebte Mensch plötzlich behauptet, bestohlen worden zu sein oder einen beschimpft, ist es schwer, nicht emotional zu reagieren.
Der Teufelskreis der Schuld
Was viele nicht wissen: Chronische Schuldgefühle machen krank. Sie führen zu:
Erschöpfungszuständen und Burnout
Depressiven Verstimmungen
Psychosomatischen Beschwerden
Sozialer Isolation
Besonders tückisch: Schuldgefühle rauben Energie, die für die Selbstfürsorge nötig wäre. So entsteht ein Teufelskreis, in dem die Betreuungsqualität tatsächlich leidet – nicht weil der Angehörige nachlässig ist, sondern weil seine Ressourcen erschöpft sind.
Wege aus der Schuldfalle
Als Psychologin erlebe ich immer wieder, wie befreiend es für Angehörige ist, wenn sie beginnen, ihre Schuldgefühle zu hinterfragen. Hier einige Ansätze, die sich in meiner Arbeit bewährt haben:
1. Verstehen, dass Gefühle normal sind
Alle Gefühle – auch negative – sind menschlich und haben eine Funktion. Wut signalisiert Grenzverletzungen, Trauer hilft beim Abschiednehmen, sogar Hass kann ein verzweifelter Hilferuf der Seele sein. Gefühle zu haben bedeutet nicht, ein schlechter Mensch zu sein.
2. Das Unmögliche nicht verlangen
Perfektion in der Pflege ist unmöglich. Niemand kann 24 Stunden am Tag geduldig, liebevoll und präsent sein. Die Frage sollte nicht lauten: "Mache ich alles richtig?", sondern: "Tue ich mein Bestes mit den Ressourcen, die mir zur Verfügung stehen?"
3. Selbstfürsorge als Pflegegrundlage verstehen
Selbstfürsorge ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Nur wer für sich selbst sorgt, kann langfristig für andere da sein. Ein Glas, aus dem ständig geschöpft wird, ohne es wieder aufzufüllen, ist irgendwann leer.
4. Unterstützung annehmen
Viele Angehörige haben den Anspruch, alles alleine zu schaffen. Dabei ist es ein Zeichen von Stärke und Verantwortungsbewusstsein, Hilfe anzunehmen – sei es durch ambulante Dienste, Tageszentren, Angehörigengruppen oder psychologische Unterstützung.
5. Die Demenz als Täter erkennen
Nicht der Mensch mit Demenz ist schwierig, sondern die Krankheit verursacht das veränderte Verhalten. Diese Erkenntnis hilft, emotional Abstand zu gewinnen und weniger persönlich betroffen zu reagieren.
Eine neue Perspektive finden
In meinen Beratungen erlebe ich oft, wie Angehörige nach Jahren der Pflege sagen: "Ich hätte nie gedacht, dass ich das schaffe." In aller Belastung liegt auch die Chance für persönliches Wachstum, für die Entdeckung eigener Stärken und für eine neue Art der Verbindung zum erkrankten Menschen.
Die Pflegezeit kann – bei aller Schwere – auch wertvolle Momente der Nähe, Zärtlichkeit und sogar Freude bringen. Diese Momente wahrzunehmen und wertzuschätzen, ist ein wichtiger Schritt aus der Schuldfalle.
Reflexion: Hinter den Kulissen der psychologischen Arbeit
Ein persönlicher Einblick
Wenn ich nach 10 Jahren in der Arbeit mit demenzbetroffenen Familien zurückblicke, berührt mich besonders, wie viele Angehörige sich selbst geißeln für völlig normale menschliche Reaktionen. Ich erinnere mich an Herrn Müller, der sich nicht verzeihen konnte, dass er seiner Frau gegenüber laut geworden war, nachdem sie zum dritten Mal in einer Nacht aufgestanden war und den Kleiderschrank ausgeräumt hatte.
In solchen Momenten fällt es mir manchmal schwer, die professionelle Distanz zu wahren. Ich möchte diesen Menschen zurufen: "Seht ihr denn nicht, wie unglaublich viel ihr leistet? Wie sehr ihr euch aufopfert?"
Was mich in meiner Arbeit immer wieder berührt, ist die tiefe Liebe, die hinter all der Verzweiflung, Wut und Erschöpfung steht. Es ist die Liebe, die diese Menschen jeden Morgen aufstehen und weitermachen lässt, trotz schlafarmer Nächte und undankbarer Tage.
Besonders bewegend finde ich jene Momente, in denen Angehörige beginnen, milder mit sich selbst umzugehen. Wenn eine Tochter nach Monaten zum ersten Mal wieder ins Theater geht, ohne ständig ans Telefon zu denken. Wenn ein Ehemann lernt, über die skurrilen Situationen zu lachen, die der Alltag mit Demenz manchmal mit sich bringt.
In diesen Augenblicken spüre ich, dass meine Arbeit einen Unterschied macht. Nicht weil ich besonders klug berate oder revolutionäre Techniken anwende, sondern weil ich einen Raum biete, in dem alle Gefühle – die schönen wie die hässlichen – da sein dürfen. In dem nicht bewertet, sondern verstanden wird.
Eine meiner Klientinnen sagte einmal etwas, das ich nie vergessen habe: "Die Demenz hat uns vieles genommen. Aber sie hat mir auch beigebracht, im Moment zu leben. Früher habe ich mich über Kleinigkeiten aufgeregt. Heute freue ich mich, wenn mein Mann mich erkennt und lächelt – auch wenn es nur für einen Augenblick ist."
Diese Weisheit, die im Schmerz geboren wurde, beeindruckt mich jedes Mal aufs Neue. Sie erinnert mich daran, dass wir als Menschen die erstaunliche Fähigkeit haben, selbst in den schwierigsten Lebenssituationen zu wachsen.
Was ich allen pflegenden Angehörigen mit auf den Weg geben möchte:
Ihr seid nicht allein mit euren ambivalenten Gefühlen. Ihr seid nicht schuldig, wenn ihr an eure Grenzen kommt. Und vor allem: In all eurer vermeintlichen Unzulänglichkeit seid ihr genau die Begleiter, die eure erkrankten Angehörigen brauchen – mit all euren menschlichen Ecken und Kanten.
Mit diesen Zeilen wünsche ich den Teilnehmerinnen der heutigen Zoom- Gesprächsrunde und natürlich allen anderern Lesern eine gute und Nacht!

Comments