Tag 66: Grenzen setzen: Selbstfürsorge als Liebesbeweis
- leyroutz
- 31. März
- 3 Min. Lesezeit
Heute möchte ich über etwas schreiben, das mir in meiner langjährigen Arbeit mit pflegenden Angehörigen immer wieder begegnet: die stille Erschöpfung, die sich wie ein Schatten über so viele liebevolle Seelen legt, die für ihre an Demenz erkrankten Liebsten sorgen.
Die Balance zwischen Fürsorge und Selbsterhalt
In meiner Praxis sitzt mir eine Frau gegenüber. Ihre Augen sind müde, ihre Schultern gebeugt unter der Last der Verantwortung. Seit drei Jahren pflegt sie ihren Mann mit fortgeschrittener Demenz. "Ich kann nicht mehr", flüstert sie, "aber ich darf doch nicht aufgeben. Er würde dasselbe für mich tun."
Ich nehme ihre Hand und sage etwas, das sie überrascht: "Grenzen zu setzen ist kein Versagen. Es ist ein Akt der Liebe – zu ihm und zu sich selbst."
In all den Jahren meiner Arbeit habe ich eine tiefe Wahrheit erkannt: Grenzen sind keine kalten Mauern, die uns von unseren Liebsten trennen. Sie sind liebevolle Schutzräume, die uns davor bewahren, in der Fürsorge unterzugehen. Sie sind wie die Sauerstoffmasken im Flugzeug – erst wenn wir selbst atmen können, können wir anderen helfen.
Strategien der Selbstfürsorge, die ich von Herzen empfehle
Ich erinnere mich an Klaus, der seine Frau mit Demenz betreute und anfangs jede Hilfe ablehnte. "Das schaffe ich allein", beteuerte er. Sechs Monate später brach er während einer unserer Sitzungen in Tränen aus. Der Wendepunkt kam, als er verstand: Professionelle Unterstützung anzunehmen bedeutet nicht, seine Frau im Stich zu lassen. Es bedeutet, ihr die bestmögliche Betreuung zu ermöglichen – auch dann, wenn er selbst erschöpft ist.
Regelmäßige Auszeiten sind kein Luxus, sondern lebensnotwendige Atemräume. Maria, eine andere Klientin, reservierte sich jeden Mittwochnachmittag zwei Stunden für sich selbst – sei es für einen Spaziergang im Park, ein Treffen mit einer Freundin oder einfach nur Stille. "Diese zwei Stunden geben mir die Kraft für die restlichen 166 Stunden der Woche", erzählte sie mir.
Die emotionale Reflexion ist ein Werkzeug, das ich allen ans Herz lege. Nehmen Sie sich jeden Abend fünf Minuten Zeit und fragen Sie sich: "Wie geht es mir wirklich? Was hat mich heute berührt? Was brauche ich morgen?" Diese kleine Praxis kann Wunder wirken.
Und schließlich: Bauen Sie Netzwerke auf. Niemand ist eine Insel, besonders nicht in stürmischen Zeiten. Eine Selbsthilfegruppe, Gespräche mit anderen Betroffenen, virtuelle Unterstützungsnetzwerke – all das sind Lebenslinien, die Sie vor dem Ertrinken bewahren können.
Fragen, die ich Ihnen ans Herz lege
In meinen Therapiesitzungen stelle ich oft Fragen, die zunächst schmerzhaft sein können, aber heilsame Klarheit bringen:
Welche Aufgaben überfordern Sie regelmäßig? Dies ehrlich zu benennen ist der erste Schritt zur Entlastung.
Wo brauchen Sie Unterstützung – und warum fällt es Ihnen vielleicht schwer, darum zu bitten? Oft liegen hier alte Glaubenssätze verborgen: "Ich muss stark sein", "Niemand kann es so gut wie ich", "Ich darf nicht zur Last fallen".
Wie definieren Sie Ihre Grenzen? Sind sie klar und liebevoll kommuniziert, oder schwanken sie je nach Tagesform und schlechtem Gewissen?
Eine Botschaft von Herzen
In den vielen Jahren meiner Arbeit mit Demenzbetroffenen und ihren Familien habe ich eine tiefe Wahrheit erkannt: Liebe wandelt sich, wird aber niemals verschwinden.
Die Liebe, die Sie für Ihren erkrankten Angehörigen empfinden, nimmt neue Formen an. Sie lernt neue Wege des Ausdrucks. Sie findet neue Kanäle der Verbindung. Und manchmal – und das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis – zeigt sich die Liebe gerade darin, sich selbst zu bewahren, um langfristig da sein zu können.
Als ich Elise kennenlernte, war sie am Ende ihrer Kräfte. Nach drei Jahren ununterbrochener Pflege ihres Mannes mit einer Alzheimerdemenz hatte sie ihre eigene Gesundheit, ihre Freundschaften und ihre Lebensfreude geopfert. "Ich habe alles gegeben", sagte sie mir, "aber jetzt bin ich leer."
Gemeinsam fanden wir einen Weg, wie Elise zweimal pro Woche eine Tagesbetreuung für ihren Mann organisieren konnte. Am Anfang war das Schuldgefühl überwältigend. Doch nach einigen Wochen bemerkte sie etwas Erstaunliches: In den Stunden, die sie für sich hatte, tankte sie neue Kraft. Und wenn ihr Mann von dem Tageszentrum zurückkam, war sie geduldiger, liebevoller und präsenter für ihn.
"Ich habe verstanden", sagte sie mir bei unserem letzten Gespräch, "dass Selbstfürsorge kein Egoismus ist. Es ist mein Liebesbeweis – an ihn und an mich selbst."
Diese Weisheit gebe ich heute an Sie weiter. Setzen Sie Grenzen – nicht als Mauern, sondern als liebevolle Gesten des Selbsterhalts. Denn nur wer sich selbst bewahrt, kann langfristig für andere da sein.
Mit herzlichen Grüßen, Christine Leyroutz

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