Tag 93: Mit Gelassenheit auf wiederholte Fragen reagieren
- leyroutz
- vor 2 Tagen
- 2 Min. Lesezeit
Als Gerontopsychologin und Demenzexpertin begegnet mir in Beratungsgesprächen häufig die Frustration pflegender Angehöriger über das ständige Wiederholen von Antworten. "Wann kommt meine Tochter?" "Welcher Tag ist heute?" "Wo sind wir hier?" – diese scheinbar endlose Wiederholung der gleichen Fragen stellt selbst die geduldigsten Pflegepersonen vor enorme Herausforderungen.
Aus neuropsychologischer Perspektive ist dieses Phänomen direkter Ausdruck der Störung des Kurzzeitgedächtnisses. Die hippocampalen Strukturen, die für die Überführung neuer Informationen ins Langzeitgedächtnis verantwortlich sind, werden bei Demenzerkrankungen früh in Mitleidenschaft gezogen. Für den Betroffenen ist jede Frage tatsächlich neu – die zuvor erhaltene Antwort wurde schlichtweg nicht gespeichert. Gleichzeitig bleiben emotionale Bedürfnisse nach Sicherheit, Orientierung und menschlicher Zuwendung vollständig erhalten.
Um pflegenden Angehörigen zu helfen, gelassener mit wiederholten Fragen umzugehen, empfehle ich folgende evidenzbasierte Strategien:
Bedürfnisorientierte Kommunikation: Die Demenz-Kommunikationsforschung zeigt uns, dass hinter wiederkehrenden Fragen oft tiefere emotionale Bedürfnisse stehen. Die Frage "Wann kommt mein Sohn?" bedeutet möglicherweise "Ich fühle mich allein" oder "Ich brauche Bestätigung, dass ich nicht vergessen wurde". Anstatt nur faktische Antworten zu geben, sollten wir auch auf diese emotionale Ebene eingehen: "Dein Sohn hat dich sehr lieb. Er besucht dich regelmäßig und kümmert sich um dich. Ich bin sicher, er freut sich schon auf seinen nächsten Besuch."
Antizipieren Sie Orientierungsbedürfnisse: Statt zu warten, bis die Person desorientiert nachfragt, können Orientierungshilfen proaktiv angeboten werden. Eine gut sichtbare Uhr, ein großer Kalender mit markierten Besuchsterminen oder eine Tafel mit den wichtigsten Informationen des Tages können das Sicherheitsgefühl stärken und die Häufigkeit von Wiederholungsfragen reduzieren.
Validierender Ansatz nach Naomi Feil: Dieser therapeutische Ansatz lehrt uns, die subjektive Realität des Menschen mit Demenz anzuerkennen. Statt zu korrigieren oder auf faktische Richtigkeit zu bestehen, bestätigen wir die zugrundeliegenden Gefühle: "Du vermisst deine Tochter und möchtest sie gerne sehen. Sie ist ein wichtiger Teil deines Lebens."
Ablenkung durch biografisch bedeutsame Aktivitäten: Forschungsergebnisse zeigen, dass biografisch verankerte Aktivitäten besonders wirksam sind, um positive Emotionen hervorzurufen und Angst zu reduzieren. Ein Fotoalbum, ein Lieblingslied oder eine vertraute haptische Beschäftigung können die Aufmerksamkeit auf angenehme Weise umlenken.
Techniken der Selbstregulation für Pflegende: Die neurowissenschaftliche Forschung bestätigt, dass bereits kurze Achtsamkeitsübungen die Stressreaktivität reduzieren können. Pflegenden empfehle ich die 4-7-8-Atemtechnik (4 Sekunden einatmen, 7 Sekunden halten, 8 Sekunden ausatmen) oder die kurze "STOPP-Formel" (Stehenbleiben, Tief atmen, Orientieren, Perspektive wechseln, Praktisch handeln) in emotional herausfordernden Momenten.
Tonfall und nonverbale Kommunikation: Das limbische System, zuständig für emotionale Verarbeitung, bleibt oft bis in späte Demenzstadien intakt. Ein freundlicher Tonfall, ein Lächeln oder eine sanfte Berührung werden wahrgenommen und können beruhigend wirken, selbst wenn der Inhalt der Antwort bald vergessen wird.
Reframing der eigenen Perspektive: Pflegende können ihre innere Haltung zu wiederholten Fragen verändern. Statt "Schon wieder die gleiche Frage" können sie sich sagen: "Diese Frage ist für ihn/sie neu und wichtig. Ich kann mit meiner Antwort Sicherheit vermitteln." Diese kognitive Umstrukturierung reduziert nachweislich Frustrationsgefühle.
Die Kontinuitätstheorie in der Gerontologie lehrt uns, dass Menschen mit Demenz danach streben, persönliche Kontinuität aufrechtzuerhalten, während sie mit kognitiven Verlusten umgehen müssen. Wiederholte Fragen sind oft Teil dieses Strebens nach Kohärenz und Sinnhaftigkeit. Wenn wir dies verstehen, können wir mit mehr Empathie und Gelassenheit reagieren.

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