top of page
Suche

Tag 94: Die emotionale Achterbahn in der Demenzbegleitung

  • leyroutz
  • vor 12 Minuten
  • 3 Min. Lesezeit

Als Gerontopsychologin mit langjähriger Erfahrung in der Demenzbegleitung erlebe ich täglich, wie Angehörige durch ein komplexes emotionales Labyrinth navigieren müssen. Die Veränderungen, die Demenz mit sich bringt, lösen ein wahres Kaleidoskop an Gefühlen aus: tiefe Trauer über den schleichenden Verlust der vertrauten Persönlichkeit, Wut über die Ungerechtigkeit der Erkrankung, lähmende Schuldgefühle bei eigener Überforderung, quälende Angst vor der ungewissen Zukunft, aber auch unverhoffte Momente tiefer Liebe und Verbundenheit.


Aus psychologischer Perspektive durchlaufen pflegende Angehörige einen Prozess der "antizipatorischen Trauer" – ein Konzept, das Pauline Boss in ihrer Forschung zu "ambiguous loss" (mehrdeutigem Verlust) detailliert beschrieben hat. Diese besondere Form der Trauer ist dadurch gekennzeichnet, dass der geliebte Mensch physisch noch anwesend, jedoch psychisch teilweise abwesend ist. Die klassischen Trauerphasen nach Kübler-Ross (Verleugnung, Wut, Verhandeln, Depression, Akzeptanz) verlaufen hier nicht linear, sondern zyklisch und überlappend – ein Phänomen, das ich als "Trauerspiralen" bezeichne.

Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard sagte einst: "Verstehen kann man das Leben nur rückwärts, leben muss man es vorwärts." Diese Erkenntnis ist für Angehörige besonders relevant: Die emotionale Achterbahn erscheint oft chaotisch und überwältigend, doch mit fachlicher Unterstützung können diese Gefühle eingeordnet und als normale Reaktionen auf eine außergewöhnliche Situation verstanden werden.

Der personenzentrierte Ansatz nach Tom Kitwood bietet hier einen wertvollen theoretischen Rahmen. Kitwood beschreibt das "Personsein" als einen Status, der einem menschlichen Wesen von anderen verliehen wird – im Kontext von Beziehung und sozialem Sein. Trotz kognitiver Einschränkungen bleibt das Personsein des Menschen mit Demenz erhalten, wenn wir es durch unsere Haltung und Interaktion bekräftigen. Diese Perspektive kann transformierend wirken und helfen, schmerzhafte Gefühle in eine tiefere Verbindung umzuwandeln.

In meiner therapeutischen Arbeit mit pflegenden Angehörigen haben sich folgende evidenzbasierte Strategien für den Umgang mit der emotionalen Achterbahn bewährt:


Emotionale Metakognition entwickeln: Die Fähigkeit, die eigenen Emotionen wahrzunehmen, zu benennen und als vorübergehend zu erkennen, ohne sich mit ihnen zu identifizieren, ist ein Schlüsselelement emotionaler Resilienz. Ich ermutige Angehörige zu reflektieren: "Ich fühle gerade Wut, aber ich bin nicht diese Wut." Achtsamkeitsbasierte Interventionen haben sich hier als besonders wirksam erwiesen.

Differenzierte Trauerarbeit: Die verschiedenen Verlustdimensionen bei Demenz – Verlust der gemeinsamen Zukunftsplanung, der gewohnten Kommunikation, der Rollenverteilung – erfordern eine differenzierte Auseinandersetzung. Therapeutisch begleite ich Angehörige dabei, diese verschiedenen Verluststränge zu identifizieren und spezifisch zu betrauern, während gleichzeitig die fortbestehenden Verbindungsmöglichkeiten gewürdigt werden.

Schuldgefühle transformieren: Perfektionistische Ansprüche an die eigene Pflegeleistung und quälende Schuldgefühle bei Überforderung sind häufige Phänomene. Die kognitive Umstrukturierung dysfunktionaler Überzeugungen ("Ich muss immer geduldig sein") hin zu realistischeren Einstellungen ("Ich bin ein Mensch mit Grenzen, der sein Bestes gibt") kann enorme Entlastung bringen.

Biografisches Reframing: Die Integration der Demenzerkrankung in die gesamte Lebensgeschichte der Beziehung kann Sinnfindung fördern. Fragen wie "Welche Stärken unserer Beziehung können uns jetzt tragen?" oder "Was hätte er/sie sich für diese Lebensphase gewünscht?" ermöglichen neue Perspektiven.

Affektregulationstechniken: Für akute emotionale Belastungssituationen vermittle ich praktische Techniken wie progressive Muskelentspannung nach Jacobson, Atemregulationsübungen oder sensorische Anker (ein vertrauter Duft, ein beruhigendes Tastgefühl), die schnell zur emotionalen Stabilisierung beitragen können.

Soziale Resonanzräume schaffen: Die sozialpsychologische Forschung zeigt eindeutig, dass das Teilen emotionaler Erfahrungen mit verständnisvollen anderen ihre belastende Wirkung reduziert. Selbsthilfegruppen, moderierte Angehörigengruppen oder therapeutische Gespräche bieten solche Resonanzräume.

Positive Psychologie integrieren: Das bewusste Fokussieren auf erhaltene Fähigkeiten, gelingende Momente und kleine Freuden – etwa durch ein Dankbarkeitstagebuch oder das abendliche Reflektieren von drei positiven Erlebnissen – kann nachweislich das emotionale Wohlbefinden steigern.


Das Konzept der "Post-traumatischen Reifung" nach Tedeschi und Calhoun beschreibt, wie Menschen durch die Auseinandersetzung mit belastenden Lebensereignissen persönliches Wachstum erfahren können. In meiner klinischen Erfahrung erlebe ich oft, wie Angehörige durch die Demenzbegleitung eine tiefere Wertschätzung für den gegenwärtigen Moment, authentischere Beziehungen und eine veränderte Lebensprioritätensetzung entwickeln.




 
 
 

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Comentarios


PER E-MAIL ABONNIEREN

Danke für die Nachricht!

© 2021 Christine Leyroutz - Alle Fotos von Fotografie_Lebzelt

bottom of page