Tag 95: Momente des Gluecks erschaffen in der taeglichen Betreuung
- leyroutz
- vor 12 Minuten
- 3 Min. Lesezeit
Als Gerontopsychologin und Demenzexpertin beobachte ich in meiner täglichen Arbeit, dass Angehörige in der intensiven Pflegesituation oft so stark auf die Defizite und praktischen Herausforderungen fokussiert sind, dass die Möglichkeit positiver Erlebenswelten aus dem Blick gerät. Dabei belegt die neurowissenschaftliche Forschung eindeutig: Menschen mit Demenz verfügen über bemerkenswerte emotionale Fähigkeiten und können intensive Glücksmomente erleben – oft sogar mit verstärkter unmittelbarer emotionaler Resonanz, da kognitive Filter reduziert sind.
Der personenzentrierte Ansatz nach Tom Kitwood bietet ein wertvolles theoretisches Gerüst, um diese Glückspotenziale systematisch zu erschließen. Kitwood identifizierte fünf grundlegende psychosoziale Bedürfnisse, die für das Wohlbefinden bei Demenz entscheidend sind: Trost (comfort), Identität (identity), Beschäftigung (occupation), Einbeziehung (inclusion) und Bindung (attachment). Werden diese Bedürfnisse erfüllt, können selbst bei fortgeschrittener Demenz tiefe Zufriedenheit und Lebensfreude entstehen.
Basierend auf dieser Theorie und neueren Erkenntnissen aus der Emotionsforschung möchte ich konkrete, evidenzbasierte Ansätze vorstellen, um gezielt Glücksmomente im Pflegealltag zu kreieren:
Multisensorische Stimulation: Die sensorische Stimulation umgeht kognitive Barrieren und erreicht direkt das emotionale Erleben. Studien belegen die positive Wirkung systematischer sensorischer Anregung nach dem Snoezelen-Prinzip. Konkret empfehle ich:
Olfaktorische Stimulation: Vertraute Düfte wie frisch gebackenes Brot, Lavendel oder biografisch bedeutsame Parfüms können positive Emotionen und Erinnerungen triggern. Die direkte Verbindung des Riechnerven zum limbischen System macht diese Sinnesmodalität besonders wertvoll.
Taktile Erfahrungen: Verschiedene Materialien zum Ertasten (Seide, Wolle, Leder), eine sanfte Handmassage mit duftendem Öl oder das Spüren von Naturmaterialien wie Muscheln oder Kastanien schaffen intensive haptische Erlebnisse.
Auditive Impulse: Individualisierte Musikinterventionen haben nachweislich starke positive Effekte auf die Stimmung und können selbst bei schwerer Demenz Erinnerungen und Emotionen wecken. Besonders wirksam sind Lieder aus der Jugendzeit (zwischen 15 und 25 Jahren), da diese besonders tief im autobiografischen Gedächtnis verankert sind.
Biografieorientierte Mikroaktivitäten: Die Kontinuitätstheorie nach Robert Atchley betont die Bedeutung biografischer Kontinuität für die Identitätswahrung. Aktivitäten, die an frühere Rollen, Interessen und Kompetenzen anknüpfen, vermitteln Selbstwirksamkeit und Freude. Dabei gilt das Prinzip der "begleitenden Mikroaktivitäten":
Für einen ehemaligen Gärtner kann das Fühlen verschiedener Blätter, das Riechen an frischen Kräutern oder das Einsortieren von Samenpäckchen bedeutsam sein.
Eine frühere Büroangestellte mag Freude am Sortieren von Briefklammern oder dem Stempeln von Papieren finden.
Für jemanden, der gerne kochte, kann das Kneten von Teig, das Riechen an Gewürzen oder das Falten von Servietten sinnstiftend sein.
Entscheidend ist die Adaptation der Aktivität an die aktuelle kognitive Leistungsfähigkeit – es geht nicht um Leistung, sondern um das positive Erleben von Kompetenz und Kontinuität.
Embodied Cognition – Körperliche Dimension des Wohlbefindens: Die Forschung zur "Embodied Cognition" zeigt, dass körperliche Zustände direkt emotionales Erleben beeinflussen. Folgende Interventionen nutzen diesen Zusammenhang:
Sanfte Bewegungsrituale wie Sitztänze oder adaptierte Qigong-Übungen aktivieren das körpereigene Belohnungssystem.
Therapeutische Berührungen wie Handmassagen, sanftes Bürsten der Haare oder das bewusste Halten der Hand stimulieren die Ausschüttung von Oxytocin, dem "Bindungshormon".
Die "Green Care"-Forschung dokumentiert die beruhigende und stimmungsaufhellende Wirkung von Naturkontakten – sei es durch einen Spaziergang im Garten, das Beobachten von Vögeln am Fenster oder das Arrangement frischer Blumen.
Kreativität und ästhetisches Erleben: Die Kreativitätsforschung bei Demenz dokumentiert eindrucksvoll, dass künstlerischer Ausdruck selbst bei schwerer kognitiver Beeinträchtigung möglich bleibt und tiefe Freude auslösen kann:
Intuitive Malverfahren mit leuchtenden Farben auf saugfähigem Papier ermöglichen unmittelbare ästhetische Erfolgserlebnisse ohne technische Anforderungen.
Einfache Musikinstrumente wie Klangschalen, Rasseln oder Trommeln ermöglichen aktive musikalische Teilhabe.
Kreatives Geschichtenerzählen mit Bildern oder Gegenständen als Impulsgeber kann selbst bei eingeschränkter Sprachfähigkeit gelingen.
Ritualisierung und Vorhersehbarkeit: Die Neuropsychologie lehrt uns, dass vertraute Rituale Sicherheit vermitteln und dadurch positives Erleben fördern:
Tagesstrukturierende Rituale wie die gemeinsame Tasse Tee am Nachmittag, das abendliche Vorlesen oder ein kurzes Morgenritual schaffen Ankerpunkte.
Jahreszeitliche Rituale wie das Schmücken eines kleinen Adventskranzes, das Betrachten von Frühlingsblumen oder das Feiern persönlicher Feiertage stärken das zeitliche Orientierungsgefühl.
Mikro-Interaktionen und Kommunikative Präsenz: Die Kommunikationsforschung bei Demenz zeigt, dass kurze, qualitativ hochwertige Interaktionsmomente stärker zum Wohlbefinden beitragen als die quantitative Interaktionsdauer:
Die "Drei-Minuten-Regel": Bereits drei Minuten vollständiger Präsenz und achtsamer Zuwendung können tiefe emotionale Verbundenheit schaffen.
"Slow Communication": Bewusstes Verlangsamen der Kommunikation, Reduktion paralleler Reize und Fokussierung auf den gegenwärtigen Moment fördern positives Erleben.
Spiegelneuronen aktivieren: Durch bewusstes Spiegeln der Emotionen und Gesten des Gegenübers wird neurologisch verankerte Verbundenheit gefördert.
In meiner praktischen Arbeit mit pflegenden Angehörigen erlebe ich immer wieder, wie wertvoll eine systematische "Glücksmomente-Reflexion" sein kann: Das bewusste Wahrnehmen, Dokumentieren und Reflektieren positiver Momente schärft den Blick für Ressourcen und verändert die gesamte Pflegebeziehung. Als praktisches Instrument hat sich ein "Glücks-Tagebuch" bewährt, in dem täglich mindestens ein gelungener Moment festgehalten wird.

Comments